Gut zu wissen: Wir verwenden im Beitrag nicht den Begriff „Attachment Parenting“, obwohl er teilweise geläufiger ist als „bindungs- oder bedürfnisorientierte Elternschaft“. Der Hintergrund: Begründer William Sears geriet in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik, ein zu festes Regelwerk zu propagieren und damit unter anderem ein veraltetes Frauenbild zu fördern. Viele deutsche Expertinnen machen sich deshalb für einen neuen Begriff stark und sagen ganz klar: Bedürfnisorientierte Elternschaft ist eine Haltung, keine starre Methode.
Was bedeutet bindungsorientierte Elternschaft?
Eine enge Beziehung zwischen Kindern und Eltern ist der Grundpfeiler der bedürfnis- oder bindungsorientierten Elternschaft. Dahinter steckt die nicht verhandelbare Haltung, dass Geborgenheit und Nähe lebenswichtig für Kinder sind. Wenn ich meinem Kind nah bin, erkenne ich, was es wirklich braucht: zum Beispiel Sicherheit, Autonomie, Schlaf oder Nahrung. Die Bedürfnisse sind vielfältig, nicht immer eindeutig – und genauso wichtig wie die der Eltern. Diese sind in der Verantwortung, die Bedürfnisse von ihren Kindern und von sich selbst zu erkennen und in Balance zu bringen. Das erfordert Feingefühl, Empathie und Geduld – und kann mitunter einiges an emotionaler Arbeit bedeuten. Ein weiterer wichtiger Punkt: Eltern vertrauen darauf, dass sich ihre Kinder aus sich selbst heraus entwickeln; jedes in seinem eigenen Tempo und mit seiner eigenen Persönlichkeit. Sie begleiten Kinder auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit und sind ihr sicherer Hafen.

Bindungsorientierte Erziehung: Eltern begleiten ihre Kinder auf dem Weg in die Eigenständigkeit und sind gleichzeitig ihr sicherer Hafen.
Gehören Tragen, Stillen und Familienbett zwingend dazu?
Nein! Bedürfnisorientierte Elternschaft ist eine Haltung, keine starre Methode. Jede Familie entscheidet und gestaltet selbst, was dazugehört. Besonders im ersten Lebensjahr ist die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung enorm wichtig für die Entwicklung des Kindes – damit verwöhnen Eltern ihr Baby nicht! Die Strategien zur Befriedigung der Bedürfnisse sind ganz individuell: In manchen Familien schläft das Baby beim gemeinsamen Kuscheln im Bett ein, bei Mama mit der Flasche auf dem Arm oder bei Papa im Tragetuch. Gleichzeitig sollten Eltern gut auf ihre eigenen Grenzen achten und sich alle Unterstützung von außen holen, die sie kriegen können. Denn: Es gibt kein unverhandelbares Bedürfnis danach, von Mama in den Schlaf gestillt zu werden – wohl aber das Bedürfnis nach Schlaf, Nähe, Nahrung, Sicherheit und Geborgenheit, das vielleicht auch durch andere Strategien erfüllt werden kann.

Stimmt es, dass die Bedürfnisse der Kinder immer an erster Stelle stehen?
Nein, das ist ein großes Missverständnis. Zuwendung, Geborgenheit und Nähe bringen weder überbehütende Helikoptereltern noch unerzogene Tyrannenkinder hervor. Entgegen kritischen Meinungen geht es nicht darum, dem Nachwuchs alle Wünsche von den Augen abzulesen, sondern die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu berücksichtigen – und zwar von Eltern und Kindern.
Ist das nicht furchtbar anstrengend für Eltern?
Ja, dem Verhalten der Kinder nicht mit Druck und Strafen, sondern mit Verständnis und Klarheit zu begegnen, kann schwer sein. Meist haben wir es doch selbst nicht so gelernt und verfallen bei Stress und Überforderung schnell in alte Muster, die wir eigentlich gar nicht haben wollen. Herauszufinden, welche Bedürfnisse gerade hinter einem Verhalten oder einem geäußerten Wunsch stecken, erfordert Einfühlungsvermögen, Geduld und die Bereitschaft zur Reflexion. Eltern sind in der Verantwortung, genau hinzuschauen – bei sich und ihren Kindern. Was braucht mein Kind? Was brauche ich? Manchmal muss dann das eine Bedürfnis zugunsten des anderen warten, manchmal finden sich Wege, um beide Bedürfnisse in Einklang zu bringen.